Andreas Daschner
Journalist

Musings of a Texting Freak

An dieser Stelle schreibe ich in unregelmäßigen Abständen über Themen aus den unterschiedlichsten Bereichen, die mich bewegen.


2022-09-05

Schaffe, schaffe, Häusle baue und dann erschöpft ins Grab nei falle - oder: Was ist eigentlich Wohlstand?

Wachstum ermöglicht Wohlstand. Das hört man oft. Klingt ja auch gut: Je mehr produziert wird und je mehr wir verdienen, desto mehr können wir uns leisten. Oder wie Herbert Grönemeyer schon so schön sang:

Ich hab schon alles, ich will noch mehr
Alles hält ewig, jetzt muss ′was neues her

Ich könnt’ im Angebot ersaufen
Mich um Sonderposten raufen
Hab′ diverse Kredite laufen, oh, was geht’s mir gut

Oh, ich kauf’ mir was
Kaufen macht soviel Spaß
Ich könnte ständig kaufen geh′n
Kaufen ist wunderschön

Ich könnte ständig, kaufen geh′n
Kaufen ist wunderschön
Ich kauf’, ich kauf′
Was, ist egal

(Quelle: Songtext „Kaufen“ von Herbert Grönemeyer,
Autoren: Mateusz Kubera, Joshua Haufschild, Daniel Powell)

Hier das neue Smartphone (obwohl das alte noch funktioniert), da ein neues Marken-Shirt (das wir dann ein- oder zweimal tragen, ehe es im Schrank vergammelt, weil wir ein neues schickes Shirt im Internet-Shop gefunden haben).

Ich hab schon alles, ich will noch mehr
Alles hält ewig, jetzt muss ′was neues her

Dort das Sommergemüse im Januar (obwohl direkt daneben der regional gewachsene Kohl liegt) – und dann natürlich noch drei Kilo Schweinefilet für 90 Cent á 100 Gramm beim Discounter nebenan. Mmmmhhhh, lecker! Nicht.

Ich kauf’, ich kauf′
Was, ist egal

Das nennen wir Wohlstand.

Szenenwechsel: Irgendwann zwischen 6 und 7 Uhr, bei rund einem Drittel der Deutschen läutet der Wecker (Quelle: forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse). Nachdem die Snooze-Funktion gnadenlos ist, quälen wir uns mühsam aus dem Bett unter die Dusche – trotzdem zu spät für ein ordentliches Frühstück. Naja, eine schnelle Wurstsemmel tut es ja auch. Dick belegt, kostet ja fast nix (Discounter nebenan, remember?). Außerdem zwei Tassen Kaffee. Zum Wachwerden. Funktioniert nur so mäßig.

Ab ins Auto und zur Arbeit fahren. Einfach 17 Kilometer – zumindest für den durchschnittlichen Deutschen (Quelle: Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit). Die Mieten in der Stadt, nahe des Arbeitsplatzes, kann sich schließlich kein Mensch mehr leisten. Fahrtzeit: mindestens 30 Minuten. Der Stau am Autobahnende ist unerträglich. Und dann sind da noch die anderen Autofahrer, die sich einen Dreck um Vorfahrtsregeln oder ähnliches scheren. Der Puls liegt bei 120. Was der Kaffee vorher nicht geschafft hat, besorgt der Verkehr.

In der Arbeit: Der Kollege ist krank (irgendwas mit Blutdruck oder so), der Chef hat einen neuen Auftrag angenommen, der am besten gestern fertig sein soll – was schon zu zweit eine Herausforderung ist. Aber was soll’s, arbeiten wir halt für zwei. Mittagspause fällt aus. Stattdessen holen wir uns schnell einen Burger beim Fast Food Restaurant gegenüber, den wir gut auch neben der Arbeit essen können. Mist! Ketchup auf die Tastatur gekleckert. Die Reinigung dauert ungefähr so lange, wie die Mittagspause gedauert hätte. Mit einem Tuch zwischen die Tasten zu fummeln, ist aber auch schwierig. Die Arbeit wird natürlich nicht fertig, der Chef ist sauer und verpasst uns einen verbalen Einlauf. Wir fühlen uns hundeelend (irgendwas mit Blutdruck oder so).

Aber immerhin: Endlich Feierabend! Ab ins Auto, und los geht’s – bis zum nächsten Autobahnkreuz. Stau. Im Radio sagt der Moderator irgendwas von Unfall und 45 Minuten mehr Zeit einplanen. Mist. Statt um 17.30 Uhr sind wir erst um 18.15 Uhr daheim. Kochen? Keinen Bock. Nicht nach dem Tag! Also: Lieferdienst. Eine schön fettige Pizza Schinken. Doppelt belegt. Irgendwie muss man sich ja dafür belohnen, dass man den Tag überstanden hat.

Am Abend dann endlich die Füße auf der Couch hochlegen, den Fernseher einschalten, ne Tüte Chips futtern. Und etwa zehn Minuten nach deren Ende – beziehungsweise fünf Minuten vor Beginn der Sendung, die wir uns anschauen wollten – einpennen. Um 1 Uhr schrecken wir hoch, werden beim Zähneputzen so wach, dass wir uns noch eine halbe Stunde im Bett herumdrehen, und schrecken am nächsten Tag irgendwann zwischen 6 und 7 Uhr hoch, weil der Wecker klingelt.

Aber wenigstens können wir uns so das neue Smartphone, das schicke Marken-Shirt, das Sommergemüse im Januar und das 90-Cent-Filet beim Discounter kaufen.

Ich könnte ständig kaufen geh′n
Kaufen ist wunderschön

Und das nennen wir dann Wohlstand.

40 Jahre später: Endlich Rente. Jetzt können wir unser Häuschen genießen, für das wir uns mühsam das Startkapital erarbeitet haben und dessen Hypothek noch unsere Kinder abzahlen werden. Oder besser gesagt: Wir könnten das Häuschen genießen. Denn die Gesundheit ist nicht mehr das, was sie mal war (irgendwas mit Blutdruck oder so, der Arzt sagte was von wegen ungesunder Ernährung und Fleischkonsum). Dazu die ständige Hitze, weil es kaum noch Wälder gibt. Schließlich braucht man die Flächen ja fürs Tierfutter (Discounter nebenan, remember?). Und dann auch noch die ständigen Unwetter! Letztens stand der ganze Keller unter Wasser. Zum fünften Mal alleine in diesem Jahr. Die Regale im Supermarkt sind auch nicht mehr so gefüllt wie früher. Dürre, sagen die Bauern. Haben wir gelesen. Im fünf Jahre alten Smartphone. Und unser Marken-Shirt hat inzwischen auch schon Löcher. Was Neues kann sich ja kein Mensch mehr leisten!

Und das war unser Wohlstand…

Andreas Daschner - 10:30:30 @ Allgemein