Musings of a Texting Freak
An dieser Stelle schreibe ich in unregelmäßigen Abständen über Themen aus den unterschiedlichsten Bereichen, die mich bewegen.
2022-08-16
Ockhams Rasiermesser und die Sozialen Medien, oder: Ich und mein Facebook-Ende
Kennen Sie Ockhams Rasiermesser? Nein, Ockham war nicht etwa ein Barbier, der für seine zittrige Hand berüchtigt war. Es geht vielmehr um Wilhelm von Ockham, ein Engländer, der Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhundert so vor sich hin philosophiert und theoretisiert hat. Und wenn jetzt einer sagt: „Ach, England! Die gehören heute ja nicht mal mehr zur EU!“ Verstorben ist Wilhelm von Ockham nach heutigen Erkenntnisstand wohl 1347 in … München. Aber das nur am Rande.
Als Ockham also eines Tages so vor sich hin philosophiert und theoretisiert hat, kamen ihm Gedanken, die noch heute in der Wissenschaftstheorie und wissenschaftlichen Methodik eine wichtige Rolle einnehmen. Und das dachte sich Ockham:
1. Von mehreren möglichen hinreichenden Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen.
2. Eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Variablen und Hypothesen enthält und wenn diese in klaren logischen Beziehungen zueinander stehen, aus denen der zu erklärende Sachverhalt logisch folgt.
Niedergeschrieben hat Ockham dieses Sparsamkeitsprinzip selbst übrigens nie. Erfunden auch nicht, denn ähnliche Aussagen gab es auch schon von Aristoteles. Woher man weiß, dass Ockham sich eines grüblerischen Tages (oder Abends) aber zumindest diese Gedanken gemacht haben muss? Er hat sie in seinen Schriften angewandt. Warum das Prinzip aber gleich nach ihm benannt wurde? Das weiß wohl nur Ockhams Philosophenkollege Sir William Hamilton, der die Bezeichnung im 19. Jahrhundert erfand. Aber auch das sei nur nebenbei erwähnt.
„Alles schön und gut“, wird der geneigte Leser jetzt sagen. „Aber was hat das Ganze mit einem Rasierwerkzeug zu tun?“ Nun, das ist im Grunde genommen ganz einfach: Man kann Ockhams Rasiermesser ansetzen und alle Theorien wegrasieren, die nicht einfach sind. Bleibt dadurch die einzig wahre Erklärung übrig?
Ich höre schon die Quantenphysiker aufjaulen! Bis heute gibt’s nicht eine einzige einfache Erklärung – genau genommen noch nicht mal eine komplizierte –, warum ein Elektron es tatsächlich schafft, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Oder wie zwei miteinander verschränkte Teilchen selbst in Lichtjahren Abstand ohne zeitliche Verzögerung aufeinander reagieren können, obwohl nichts schneller als das Licht sein kann – also auch nicht die Information, was das eine Teilchen gerade macht. Oder warum England nicht mehr in der EU ist. Okay, Letzteres ist jetzt nicht unbedingt ein quantenphysikalisches Phänomen, und doch ist es mindestens ebenso unerklärlich. Aber egal.
In der Tat hat Ockhams Rasiermesser heute eher den Vorteil, dass Theorien mit wenigen Variablen einfacher falsifiziert werden können. Mithin ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass sich am Ende eine kompliziertere Theorie mit vielen Variablen als richtig herausstellt. Fragen Sie mal Newton und Einstein zur Schwerkraft!
Was das Ganze jetzt mit den Sozialen Medien – und mit meinem Ende auf Facebook – zu tun hat? Nun ja, Sie kennen spätestens jetzt Ockhams Rasiermesser. Und können es mit ein bisschen Mut zum Neuen vielleicht auch anwenden. Einfache Theorie suchen, falsifizieren, nächsteinfachere Theorie angehen. Und so weiter und so fort et cetera p.p.
Gedankensprung: Die Sozialen Medien sind alles – nur nicht sozial. Eine Theorie. Von mir. Ziemlich einfach. Und trotz aller Bemühungen konnte ich sie bislang nicht falsifizieren. Okay, sich mit wirklichen Freunden via Facebook auszutauschen, ist nett. Alte Bekannte wieder aufspüren hat auch etwas. Und den einen oder anderen entfernten Kontakt kann man damit auch halten.
Aber wussten Sie schon, dass es Corona gar nicht gibt, und wenn doch, es nur ein Schnupfen ist, an dem Opa Fridolin auch so elendig erstickt wäre? Oder dass der Klimawandel eine weltweite Verschwörung ist, damit ein paar deutsche Grünen-Politiker aller Herren Länder in die Steinzeit zurückschicken können? Oder dass irgendwo in irgendwelchen Räumen in der hohlen Erde die Eliten sitzen und Kindern Adrenochrom abzapfen, um damit ewig jung zu bleiben (dass die Rolling Stones zu diesem Kreis gehören, ist womöglich nur ein Gerücht)? Oder dass die Erde eigentlich gar nicht rund ist, sondern nur eine Scheibe und wir nur deshalb nicht am Rand runterfallen, weil es dort eine riesige Eiswand gibt, die seit 1961 – und zwar genau 1961 – von Polizisten schwer bewacht wird, die jeden zurückschicken, der diese Eiswand im Stile der Wildlinge aus Game of Thrones erklimmen will?
Ich frag mal subtil: Ob derartige Theorien Ockhams Rasiermesser überleben würden?
Okay, das sind jetzt Extrembeispiele. Aber mindestens ebenso unbändigen Spaß macht es, zum viertausendeinhundertdrölfzigsten Mal unter irgendeinem Beitrag über, sagen wir mal, Speiseölknappheit zu lesen, dass das ja alles von „denen da oben“ so gewollt ist. Klar, „die da oben“. Wer ist damit eigentlich gemeint? Meiers aus dem zwölften Stock? Reinhold Messner und der Yeti bei einer Gletscherschmelze-Schaumparty? Die NASA, die auf dem Mond gerade die Mars-Landung simuliert? Man weiß es nicht. Also, „die da oben“ wollen natürlich unbedingt, dass Karl-Erhard und Henriette-Lotte täglich losziehen, um sich den Einkaufswagen bei Aldi, Lidl und Co. mit 14,7 Litern Sonnenblumenöl – „Die 21. Flasche stand so einsam herum, darum haben wir die auch genommen.“ – vollballern, um dann beim Blick in die heimische Speisekammer festzustellen: „Läuft wie geschmiert. Nein echt! Eine Flasche hatte nen Loch.“
Ebenso immer wieder erheiternd bis zur schenkelklopfen-bedingten Total-Fußlahmheit sind Kommentare wie „Da gibt’s bestimmt ne Impfung“ unter einem Beitrag über … zum Beispiel Tote nach einer Sturmflut in einem Dritte-Welt-Land. Oder „Wie gewählt, so geliefert“ bei einer Diskussion über Preissteigerungen in einer freien Marktwirtschaft.
Da wünscht man sich doch gerne Mal Ockhams Rasiermesser in die Hand – wenn schon nicht zu einer von vornherein zum Scheitern verurteilten fachgerechten Anwendung durch derart Kommentierende, dann doch wenigstens dazu, diesen Blödsinn irgendwie aus seinem Leben raus zu schneiden.
Apropos Leben. Wie sieht es eigentlich im Leben dieser Menschen so aus? Wenn ihnen zum Beispiel im Stile einer Rube-Goldberg-Maschine ein Apfel herunterfällt, sie sich danach bücken und dabei mit dem Kopf derart auf die Tischplatte knallen, sodass ihnen auch noch die restlichen Äpfel samt Schüssel auf den Kopf rutschen, nachdem sie vom Aufschlag auf der Tischplatte k.o. gegangen sind. Denken die dann, wie es wohl jeder normale Mensch tun würde, so was wie „Boah, Murphy’s Law!“ oder „Ich Schussel!“ oder einfach nur „Autsch!“? Oder feilen sie dann sofort an ihrem nächsten Telegram-Beitrag, in dem sie Bill Gates die Schuld geben, weil der sowieso gegen Apple ist und auch noch den Desktop auf Windows erfunden hat?
Wie dem auch sei. Konsequentes Nichtanwenden von Ockhams Rasiermesser gepaart mit überdurchschnittlichem Geltungsdrang führen leider immer mehr dazu, dass man in den Sozialen Medien keine kontroversen Themen mehr diskutieren kann. Denn ein jedes wird von dieser Klientel sofort an sich gerissen und mit ihren abstrusen Theorien totgeschrieben. Die Spaltung der Gesellschaft wird dadurch vorangetrieben, wobei die kräftigsten Spalter diejenigen sind, die dies am lautesten beklagen.
Die lauteste Meinung hat für gewöhnlich nicht die leiseste Ahnung. Habe ich kürzlich irgendwo gelesen. Das sieht man derzeit wohl kaum irgendwo so deutlich wie in den Sozialen Medien. Und deshalb habe ich mich von Facebook – oder Telegram 2.0, wie ich es inzwischen nenne – verabschiedet und mein Konto gelöscht.
Ockhams Rasiermesser nicht auf eine Theorie, sondern aufs digitale Leben angewandt: mit einem Schnitt alle unsinnigen Variablen entfernt. Cut.
Andreas Daschner - 20:52:16 @ Allgemein